Sobald die Sonne scheint und die Temperaturen nur wenig über dem Gefrierpunkt liegen, sehe ich hier in Deutschland schon die ersten Menschen draußen vor den Cafés und Kneipen sitzen, und dort zufrieden und entspannt ihre heißen (oder kalten) Getränke schlürfen. Und bereits im April – sofern es das Wetter erlaubt – liegen sie im Park in Bikini und Badehose und schmieren sich gegenseitig dick die Sonnencreme auf die winterblasse Haut. Viele können sogar den Sommer nicht erwarten und legen sich in den an allen Ecken zu findenden Sonnenstudios freiwillig unter den UV-Grill, um eine schöne und gesund wirkende braune Haut zu bekommen.
Und ist es dann tatsächlich Sommer und es regnet in Deutschland gerade nicht, so will keiner mehr drinnen sitzen, sondern man möchte sein Glas Weizenbier in frischer Luft und prallem Sonnenschein genießen dürfen.
Cafés und Restaurants ohne die angemessene Außenbestuhlung – oder gleich einem ganzen Biergarten – sind bei schönem Wetter dagegen einsam, öde und verlassen wie eine Oase ohne Wasser. Solange die Sonne scheint!
In Japan sieht das wiederum anders aus. Dort wird man im Sommer kaum jemanden finden, der sich an jenen Plätzen entspannt, an denen prall und ohne Schatten die Sonne brennt. Und fast kein einziges Café bietet dem Gast die Möglichkeit, draußen in der sengenden Sonne zu sitzen und dort seine Haut braten zu lassen.
Nein, in Japan meidet man direktes Sonnenlicht und schützt sich vor ihr nach Möglichkeit. So trägt die Frau im Sommer lange Handschuhe, die sie nötigenfalls bis zu den Achseln hochziehen kann, und verwendet einen meist schwarzen Sonnenschirm zum Schutz vor den harten Strahlen. Jedes nur denkbare Mittel wird zum Schutz vor Sonnenlicht genutzt, denn letzteres fürchten die Japanerinnen wie der Vampir das Tageslicht.
Deswegen wird man in den Freibädern Japans keine Frau in einem knapp bemessenen Bikini oder mit noch weniger am Leibe finden. Nein! Denn wenn sie nicht sogar einen ganzen Badeanzug mit langen Armen und Beinen trägt, so zumindest doch ein T-Shirt und einen protektiven Hut. Sogar im Wasser.
Nun sind die Winter in Deutschland lang, kalt und ziemlich dunkel, und man freut sich hierzulande schon sehr, wenn die Sonne wieder länger scheint und es wärmer wird. Aber zudem gilt eine braune Haut hier auch als Statussymbol, die zeigt, dass man sich den Urlaub in sonnigereren Gefilden leisten kann, oder doch zumindest einen allwöchentlichen Besuch im Sonnenstudio.
Aber natürlich sieht gebräunte Haut auch einfach besser aus, wenn einen die genetische Disposition als Nordeuropäer dazu verdammt, mit ungebräunter bleicher Haut auszusehen wie eine ungebrühte Weißwurst auf dem Trockenen. Das ist nicht schön, und möchte erst recht nicht gezeigt werden.
Anders dagegen in Japan, wo schon der natürliche Teint eine satte, warme Farbe zeigt, die bei geringster Bestrahlung mit Sonnenlicht ein dunkles braun anstrebt. Daher ist es hier seit Jahrhunderten und bis heute ein Statussymbol, eine vornehm helle Haut zu haben. Geishas schminkten ihr Gesicht sogar ganz extrem weiß, um selbst am Abend bei fahlem Kerzenlicht noch eine makellose Blässe präsentieren zu können. Und um das zu erreichen, schreckte man auch nicht davor zurück, sich die Exkremente der Japanischen Nachtigall (genau: »Vogelkacke«) ins Gesicht zu schmieren. Diese Creme gibt es heute noch in Japan zu kaufen.
Doch im Mittelalter galt auch in Europa der blasse Teint als das Ideal der Schönheit, und man erkaufte sich diese vornehme Gesichtsfarbe mit hochgiftigem Bleiweiß im Makeup, was jedoch nicht selten schwer heilende Abszesse der Gesichtshaut hervorrief. Doch damals konnte es sich nur der Adel leisten, nicht draussen arbeiten zu müssen und sich damit dem bräunenden Sonnenlicht zu entziehen. Denn Arbeit bedeutete damals eine Tätigkeit im Freien, und nicht wie heute ein vollklimatisiertes und neonbeleuchtetes Büro ohne nennenswerte Außenfenster.
Der Mensch strebt nach dem, was er nicht hat (oder nur schwer haben kann). Hat man krauses Haar, wird es geglättet, hat man eine dunkle Haut, wird sie gebleicht, und hat man eine große Nase, so wird sie verkleinert. Es soll Pop-Musiker geben, die machen sogar alles davon auf einmal.
In Japan dagegen gilt es als ein Kompliment, jemandem zu seiner großen Nase zu gratulieren. Das ist ein echtes und richtig großes Kompliment für den Besitzter des exponierten Organs. Dort jedenfalls. Hierzulande verbirgt man seine Begeisterung besser, das habe ich schnell gelernt.
Denn in Europa wirkt ein beeindruckendes Riechorgan manchmal recht auffällig und wird nach Möglichkeit ebenso unauffällig verkleinert, es sei denn, man ist von Beruf Komiker, oder der gewaltige Zinken in der Gesichtsmitte ist noch das kleinste Problem am äußeren Erscheinungsbild der Person. Oder beides.
Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum der Japaner das Sonnenlicht meidet: Es ist einfach ungesund, läßt die Haut altern und kann zu Hautkrebs führen. Und damit der Japaner und die Japanerin dies bloß nicht vergessen, wiederholen die Medien und die Werbung diese Botschaft unaufhörlich auf allen Sendern und Kanälen und verdienen damit an der Angst des Konsumenten.
Denn die Gesundheit und ein langes (möglichst faltenloses) Leben ist dem Japaner fast noch wichtiger als sogar das Essen, darum lautet dort die Werbebotschaft: »Die Sonne ist ungesund, schädlich, tödlich und noch viel schlimmer: Sie läßt Dich ganz rapide altern! Benutze daher unsere Produkte A, B, C und D, um rund um die Uhr vor allem Übel geschützt zu sein«. (Nein, auch in Japan scheint nachts nicht die Sonne, aber sicher ist sicher – und der Aspekt »Sicherheit« ist in Japan echt unglaublich wichtig.)
Die von der Sonne ausgehende Gefahr wird langsam auch in Europa erkannt, aber »braun« soll der auf natürliche Weise recht farblose Körper trotzdem sein bzw. werden. Also wird nun gleich die ganze Haut eingefärbt oder bemalt, am besten noch mit Hilfe einer mineral- und vitaminreichen Feuchtigkeitsmilch, inklusive Sonnenschutzfaktor und gleichzeitiger Faltenbremse.
Und Koffein ist in dem Pflegeprodukt auch noch mit drin, falls die Haut von all der Pflege müde wird und einfach nur noch abhängen möchte.
Denn das soll ja erst recht nicht sein!
mm|jah